Sich in Deutschland zur Begrüßung auf den Mund zu küssen, ist ein ähnlicher Eklat, wie in Indien eine Kuh zu essen.

Ich sitze auf einer schattigen Bank am Rande der Pont de Pierre und beobachte, wie touristenbeladene Schiffchen und Boote die Garonne entlang gespült werden und Fotoblitze die historischen Sandsteingewölbe der französischen Weinmetropole zu herrenlosen Opfern der Kultururlauber werden lassen. Nach der Ufer-Beschauungs-Tour walzen sie die Marmorböden der seidig glänzenden Rue Sainte-Catherine entlang und ruinieren mit ihren Hacken das wehrlose Gestein. Es wird auch nach dieser stürmischen Masse an Besuchern noch mit letzten Kräften zu strahlen versuchen. Dem hastigen Stampfen wird der Steinboden auch noch dieses Mal standhalten. Fortwährend wird er die prunkvollen Gebäude ringsherum noch weicher, noch herrlicher, noch lieblicher aussehen lassen. Eine Stadt, die man anschauen möchte, aber nicht anfassen, weil man Angst hat, die eigenen Hände, obgleich zuvor desinfiziert, könnten Spuren an den makellosen Wänden, Böden oder Toren hinterlassen. Kein Ton könnte hier unpassender wirken, als ein deutsches Wort. So rau, so hart, so gefühlsentfremdet. Eine solche Stadt würde in Deutschland als Misshandlungsopfer vor Gericht ziehen. Sie würde vor Scham über ihre entblößte Schönheit in sich zusammensinken, wie eine brennende Kerze. Und sie würde schließlich schuldig gesprochen, wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. Wegen Nacktheit, öffentlicher Zartheit – ungewollter Offenheit. Die Schönheit hierzulande definiert sich über andere Merkmale, als jene, die das fragile Frankreich ausmachen. Sprache und Gestaltung liegen dicht beieinander. Ganz gleich, ob Körpersprache oder das gesprochene Wort. In deutschsprachigen Ballungsgebieten wären französisch-sanfte Klänge schier vermessen. Worte, die wie Melodien durch die Gassen tanzen, Wärme entsendend, sich um die Häuser legend, wie ein Schleier – elfengleich, hauchzart und samtweich. Damen, die mit Madame oder Mademoseille angesprochen werden, Jungen, die aus Prosecco-Flaschen Bier trinken und überall Menschen, die sich küssen. Nüchterne, des Zweckes halber errichtete Hochhäuser, verglaste Bürogebäude mit 50 Etagen oder Industriehallen würden die Atmosphäre strikt ersticken.
Ich drehe mich um, schaue in die Altstadt, meine Augen wandern einem gemütlichen Treiben auf dem Marktplatz hinterher. Schlank sehen sie aus. Schmal geformte, spitzgliedrige Gesichter und jedes von solcher Exaktheit, dass es sie in seiner Gesamtheit zu einer lebendigen Puppe werden lässt. Ein überdimensionales Puppentheater, welches vor mir, in bedachten Handlungen, einen gewöhnlichen Montagmittag in all seinen Facetten aufführt. Pastellfarbene Schirmchen, rote und weiße Tischdecken und bunte Meeresfruchtsalate auf den Tischen ziehen meine beinahe besessenen Blicke auf sich. Am liebsten möchte ich mich sofort in dieses besinnliche Leben einmischen, inmitten dieser Inszenierung auf dem Marktplatz sitzen und mich friedvoll mit Garnelen und Langusten verköstigen, während um mich herum Worte, wie bunte Heißluftballons emporsteigen. Ich setze mich an ein kleines Holztischchen vor dem Cafè Rohan direkt auf dem Place Pey Berland und verfolge visuell eine Unterhaltung am Nachbartisch. Zwei junge Männer schneiden Baguette und Foie Gras Pastete und vor ihnen steht eine Flasche Château de Brondeau – sie trinken aber Bier aus winzigen, tiefblauen Flaschen. Vielleicht erhält man den Wein automatisch dazu, weil es das Stadtbild formt. Eine Bestellung dieser Art, ohne dazu Wein auf dem Tisch zu haben, würde sicherlich einen Skandal auslösen. Gäbe es einen niedergeschriebenen Verhaltenskodex für französische Staatsangehörige, dann wäre die unaufgeforderte Weinbestellung zu Baguette und Pastete sicherlich ebenso verankert, wie die beflissentliche Ignoranz anderer Länder und Sprachen. Direkt vor mir sitzt eine ältere Dame mit einem kleinen, weißen Teller vor sich, auf dem ein verlegenes Stückchen Tarte Chocolat der Mittagssonne nicht mehr länger standhalten wird. Von einer Nebenstraße kommt eine junge Frau angesprungen und umarmt die alte Lady überschwänglich. Schließlich gibt sie ihr einen Kuss auf die linke und dann auf die rechte Wange. Dann nimmt sie gegenüber Platz und schnipst der Kellnerin vergnügt zu. Unverzüglich kommt sie an den Tisch geeilt und küsst die Dame ebenso einmal links und einmal rechts. Ich höre die Kellnerin sagen: „Bonjour Mademoseille Moliere“, sie scheinen sich nur flüchtig zu kennen. Aber Damen werden immer geküsst. Welch Herzlichkeit. Auch die Männer vom Nachbartisch verabschieden sich kurz darauf mit Küsschen voneinander. Der Anblick ist so ungewohnt, dass verschämte Röte in meinem Gesicht Einzug hält. Ein wenig später erfahre ich von einem französischen Freund, dass man zumindest befreundet sein muss, wenn „Mann“ sich küsst. Diese Tatsache entschärft die Situation für mich nicht ansatzweise und ich denke über die deutsche Anonymität und Distanziertheit nach. Schließlich komme ich zu dem Ergebnis, dass ich der französischen Begrüßungswut nichts abgewinnen kann. Wo bleibt denn da der Unterschied zwischen Ernsthaftigkeit und Kumpanei? Zwischen Freundschaften und bloßen Bekannten? Zwischen Familie und Freunden? In meinem Kopf entsteht ein Bild von einem blau-roten Herz über Frankreich und ich frage mich, ob die Farbgebung der französischen Flagge eventuell wegen der kaltblütigen, ironischen Herzlichkeit auf blau und rot gefallen ist. Mir fällt eine peinliche Begrüßungsszene bei meinen französischen Freunden aus der letzten Woche ein und ich schäme mich innerlich jetzt wieder darüber. Während ich die Hand reichte, waren sie gewillt mir einen Kuss zu geben. Nur wich ich reflexartig zurück, um sofort aus diesem unfreiwilligen Eindringen in den persönlichen Bereich zu entkommen, welches sich mir unangenehm in den Weg stellte. Mein Gegenüber empfand meine Abwehrhaltung als äußerst unsympathisch und wich ebenso erschrocken zurück, ohne eine Hand herüber zu reichen. Bis zu dem Zeitpunkt, als wir die Situation aufklären konnten, war eine äußerst angespannte Stimmung im Raum. Nun sind die Unterschiede entwölkt, die Kulturen einander vorgestellt worden und wir können endlos über diese Szene lachen. Trotzdem ist es mir stets unangenehm, fremden Menschen so nahe kommen zu müssen. In Deutschland siegen Distanz und Anonymität. In Frankreich hat wohl eine scheinbare Liebe die Oberhand.
Einige Tage später ziehe ich, ein Eis schlemmend über den Kudamm, nahe dem Berliner Alexanderplatz und lasse mich schließlich an einem kleinen Brunnen nieder, um der Hektik den Garaus zu machen und mein Eis einmal so richtig zu genießen. Eine Sache, die ich in Frankreich gelernt hatte, war Ruhe bewahren und dem Essen einen ganz besonderen Wert zukommen zu lassen. Während sich in meinem Kopf eine kurze Doku über das Leben in Frankreich abspielt, nehmen im Restaurant nebenan alle fünf Minuten neue Gäste Platz. Da sitzen sie, die prüden, von der Zeit getriebenen Deutschen. Manchmal lächelt jemand, oft schaut man erwartungsvoll den Kellnern hinterher, selten bieten sich Hand-Begrüßungsszenen aber immer wieder kann ich flüchtige Hallo-Rufe vernehmen. Eine unrealistische Vorstellung, seine Familie und Freunde, ja sogar seine Chefs hierzulande mit Küsschen zu begrüßen. Fast schon eine witzige Idee, um auf ironische Weise das Eis im Vorstellungsgespräch zu brechen. Ich schmunzele ein wenig vor mich hin und breche fast in grölendem Gelächter aus, als mir eine Geschichte einer Freundin einfällt. Eines Abends, nach einer Party, saß sie mit ihrer Urlaubsliebe Benoît am Strand von Biarritz, als er ihr französische Liebeleien ins Ohr säuselte und sie anschließend ins Englische übersetzte. Als meine Freundin selbige liebe Worte ins Deutsche dolmetschte, konnten die beiden die Romantik am Horizont untergehen sehen. Außerdem beschlich Benoît, dessen Deutschkenntnisse unter null lagen, das Gefühl, meine Freundin erklärte ihm gerade Krieg. Sie kugelte sich fast vor Lachen, als er sie fragte, wie man unsere unromantische Sprache kompensieren würde. Katrin fielen in diesem Moment leider keine außergewöhnlich romantischen Handlungen von deutschen Männern ein, sodass sie sich auf Umarmungen berief. Leider waren Umarmungen wirklich das Letzte, was sich ein Franzose bei einem Deutschen vorstellen konnte. Sind doch unsere Begrüßungshandlungen eher von kühler Fasson.
Ich werfe noch einen letzten, nachdenklichen Blick ins Restaurant, in welchem man sich im Minutentakt gewaltige Portionen Spagetti und Pizza hineinschlingt bevor ich zur gläsernen Kuppel im Regierungsviertel schlendere, welche von mindestens ebenso formvollendeter Schönheit vor mir liegt, wie die gefälligen Sandsteingebäude in Bordeaux. Als ich wieder in wehmütigen Erinnerungen versinke, sehe ich plötzlich ein Pärchen leidenschaftlich Küssen und weiß, dass diese Küsse echt sind.

Obgleich zwei völlig unterschiedliche Lebensformen, Deutschland und Frankreich, wie kalt und warm, Sonne und Mond, Ying und Yang – Gegensätze ziehen sich schließlich immer an!

Posted by:WORTWIND

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